Titelfoto: Thilo Nass mit seiner historischen Plattenkamera (© Werner Musterer)

 

Der Wetplate-Fotograf Thilo Nass

Auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen jagen Fotograf/innen oft den neuesten Trends und Techniken hinterher. Mancher hat Erfolg damit, andere weniger. Dass es auch auf dem umgekehrten Weg geht, nämlich der Wiederbelebung eher archaischer Fotoverfahren, zeigt der hannoversche Porträtfotograf Thilo Nass.

Der Name ist Programm, ist man versucht zu sagen, denn tatsächlich widmet sich Thilo Nass der Technik der Kollodium-Nassplatten-Fotografie. Allerdings ist die namentliche Übereinstimmung rein zufällig, handelt es sich doch um ein Verfahren, das schon vor fast 170 Jahren von dem Engländer Frederick Scott Archer entwickelt wurde. Die lichtempfindliche Emulsion wird dabei erst direkt vor der Aufnahme auf eine Glas- oder Metallplatte aufgebracht und muss im noch nassen Zustand belichtet werden (s. Kastentext).

Wetplate by Thilo Nass

Wetplate-Portrait by © Thilo Nass

Was bewegt einen Fotografen mit immerhin fast drei Jahrzehnten Erfahrung dazu, die digitalen Geräte zur Seite zu legen? „Ich hatte schlichtweg keine Lust mehr, Bilder nur auf Monitoren zu betrachten“, so Nass im Gespräch mit der PhotoPresse. „In den letzten Jahren fehlte mir das Haptische immer mehr. Die viele Zeit vor dem Computer hat mir sehr viel Energie und letztlich auch Kreativität geraubt. Ich wollte wieder meine eigentlichen Fähigkeiten als Fotograf in den Vordergrund stellen: Licht setzen, den entscheidenden Moment sehen, die Persönlichkeit des Modells herausarbeiten und mit all dem letztlich das Bild gestalten. Digitaltechnik bedienen können viele, Wetplate beherrschen dagegen nur wenige. Damit konnte ich die Aufmerksamkeit für meine Arbeit wieder massiv steigern.“

Handwerk und Entschleunigung

Zu diesem Aufmerksamkeitsgewinn trägt natürlich auch der besondere Look der Bildergebnisse bei. Nass arbeitet vorzugsweise mit einer 120 Jahre alten Plattenkamera aus Holz und Petzval-Objektiv ohne Verschluss: „Das große Aufnahmeformat in Verbindung mit der Offenblende lässt große Teile des Bildes in Unschärfe zerfließen, aber gerade das macht die Wirkung aus. Damit die optisch scharfen Bereiche keine Bewegungsunschärfe bekommen, belichte ich mit Studioblitz. Die Kollodiumplatten haben schließlich eine Empfindlichkeit von nur etwa 1 ISO“, erklärt Nass. Am meisten schätze er aber die langsame Vorgehensweise, die das Verfahren mit sich bringe. So habe er viel mehr Ruhe, sich auf seine Kunden – hauptsächlich Privatpersonen – einzustellen. Und die genössen es sichtlich, nicht nur ein „abzulichtendes Motiv“ zu sein. Nass lässt seine Modelle am gesamten Prozess teilhaben, nimmt sie mit in seine Dunkelkammer, wenn er die Platte beschichtet, zeigt, wie das Bild auf der Mattscheibe der riesigen Kamera eingestellt wird. Fotografiertwerden wird so wieder zu einem Erlebnis, erzeugt Staunen und Bewunderung seitens der Kunden für das Handwerk.

„Ich wollte einfach nicht, dass mir die Handhabung der alten Werkzeuge verloren geht. Und was die Bildqualität angeht, gibt es überhaupt nichts zu bemängeln. Im Gegenteil, die Emulsionen sind brandscharf, fast kornlos und damit auch extrem vergrößerbar. Die Digitalfotografie ist der analogen qualitativ erst seit ganz kurzer Zeit annähernd ebenbürtig.“

Thilo Nass

Thilo Nass erläutert das Verfahren. (© Werner Musterer)

Als Produkt erhalten die Kunden die Originalplatte. „Dass sie ein echtes Unikat in Händen halten, ist eine der wichtigsten Motivationen für meine Kunden, zu mir zu kommen. Das Einzelstück überträgt ein unvergleichliches Gefühl und meine Arbeit erfährt hohe Wertschätzung“, so Nass weiter. Werden weitere Kopien oder Vergrößerungen gewünscht, komme dann doch noch Digitaltechnik ins Spiel: „Auf Wunsch scanne ich das Original mit einem hochwertigen Flachbettscanner und gebe die Datei mit oder erstelle Drucke auf hochwertigen Fine-Art-Papieren.“ Für seine eigenen Ausstellungsprojekte lässt Nass die Scans auch in großen Formaten auf Fotopapier ausbelichten. „Mit meinen Ausstellungen erreiche ich nicht nur Kunstinteressierte. Ich werde auch immer wieder von Besuchern angesprochen, die sich porträtieren lassen wollen. Als Öffentlichkeitsarbeit funktioniert das gut.“

Damit der Kundenstamm weiter wächst, hat Thilo Nass die Strategie seiner Außendarstellung angepasst. So veranstaltet er zum Beispiel Live-Demos zu verschiedenen Anlässen, hat eine eigene Landing-Page im Web gestaltet und bietet gelegentlich auch Schulungen für Berufskollegen an, die in das Nassplattenverfahren einsteigen wollen. Nicht zu unterschätzen sei der Faktor Empfehlungsmarketing: „Ganz viel läuft tatsächlich über Mundpropaganda“, erklärt Nass dazu. Den Kunden Visitenkarte und Infoprospekt mitzugeben, sei so profan wie erfolgreich. „Es hat zwar knapp zwei Jahre gedauert, zumal ich auch viel mit der technischen Abstimmung von Chemie, Temperatur, Belichtung etc. experimentieren musste. Aber inzwischen tritt ein Return on Invest ein“, sagt Nass. „Die Rückbesinnung hat mich fotografisch gerettet. Ich habe wieder Freude an meiner Arbeit und Bildergebnisse, die meine Kunden und mich glücklich machen.“

PP0319-TN

Der Beitrag ist in der PhotoPresse 03-19 sowie in der PhotoKlassik III-19 erschienen.

Internet:
silberbilder.nass.de 

 

#Wetplate #Kollodium #Frederick Scott Archer

Scott Archers Kollodium-Nassplatten-Verfahren (Collodium Wetplate)

Die zu belichtenden Glas- oder Metallplatten werden unmittelbar vor der Aufnahme in der Dunkelkammer mit Kollodium begossen und mit Silbernitrat lichtempfindlich gemacht. Noch im feuchten Zustand muss die Belichtung erfolgen. Entwickelt wird mit Eisensulfat, fixiert in Natriumthiosulfat. Die unsensibilisierte Emulsion hat eine hohe Empfindlichkeit für blaues Licht, rote Anteile dagegen erscheinen im späteren Positiv dunkel, was zu der charakteristischen Tonwertwiedergabe führt. Da die Kollodiumschicht auf schwarz eingefärbtem Metall aufgetragen wird, erscheint das eigentlich als Negativ vorhandene Silberbild wie ein positiver kaschierter Abzug.

Mit der von William Henry Fox Talbot entwickelten Kalotypie gab es schon seit etwa 1835 ein Negativ-Positiv-Verfahren. Aber Talbot war sehr geschäftstüchtig, verlangte hohe Lizenzgebühren für die Anwendung seiner Techniken und führte Prozesse gegen jeden, der nicht zahlen wollte. So dauerte es viele Jahre, bis sich die Fotografie durchsetzen konnte und ihren Weg zu einem Massenmedium begann. Es war der Erfinder des Nassplatten-Kollodium-Verfahrens, der Engländer Frederic Scott Archer, der dies ermöglichte. Im Gegensatz zu Daguerre und Talbot veröffentlichte er nämlich sein Verfahren ohne es zu lizensieren. Das hatte zur Folge, dass sich in Paris und London in kürzester Zeit ganze Straßenzüge in Fotoateliers verwandelten. Die Nassplatte war für lange Zeit die weltweit verbreitetste Technik in der Fotografie. Scott Archer starb verarmt ohne große Anerkennung seiner Arbeit. In der Szene der heutigen Nassplattenfotografen würdigt man seinen Beitrag zur Entwicklung der Fotografie und er genießt hohes Ansehen.